3. Mit KI zu neuen Medikamenten
Dass KI die Entwicklung neuer Medikamente revolutionieren könnte, wird deutlich, wenn wir uns anschauen, wo sie zum Einsatz kommen kann: praktisch überall. In allen Entwicklungsphasen eines Medikaments gibt es Potenzial für KI. Die Hoffnung besteht darin, dass KI den Prozess strukturell, qualitativ, zeitlich und damit finanziell verbessert. Nachfolgend einige Beispiele:
Massgeschneiderte Fachliteratur
KI kommt schon heute zum Einsatz, bevor es überhaupt ans Forschen geht. Jeden Tag erscheinen 8000 bis 10 000 neue wissenschaftliche Publikationen. Keine Forscherin und kein Forscher kann da den Überblick behalten. KI kann helfen, die wichtigsten Artikel aus dem riesigen Strom an Publikationen herauszufischen. Neue Erkenntnisse aus diesen Publikationen helfen den Forschenden, Ideen für neue Wirkstoffe zu entwickeln.
Identifikation von «Targets» (Zielmoleküle)
Um ein Medikament zu entwickeln, muss man zuerst einmal eine Idee haben, wo im Körper es ansetzen könnte. An welches Molekül (z. B. Protein) muss der Wirkstoff andocken, um einer Krankheit vorzubeugen? Bei der Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen kann KI helfen – besonders bei Erkrankungen, die noch wenig erforscht oder sehr selten sind.
Wirkstoffentwicklung und -optimierung
Ist eine erfolgversprechende Molekülverbindung gefunden, kann die KI dabei helfen, ein Rezept zur Herstellung des Wirkstoffs zu entwickeln. Und sie kann dabei helfen, die Eigenschaften des Wirkstoffs zu optimieren. So können die Wirksamkeit erhöht und die Nebenwirkungen vermindert werden.
Tierversuche
Mithilfe von KI können Forschende grosse Mengen an Daten analysieren und auf diese Weise zum Beispiel herausfinden, ob eine andere Forschungsgruppe in der Vergangenheit bereits einen Tierversuch durchgeführt hat. Dann muss dieser Versuch nicht erneut durchgeführt werden. So könnte KI Tierversuche teilweise ersetzen und deren Anzahl reduzieren (vgl. Abbildung 3 und Kapitel zu Tierversuchen).
Klinische Studien
In klinischen Studien werden sowohl die Verträglichkeit als auch die Wirksamkeit eines Medikaments geprüft. Klinische Studien gliedern sich in drei Phasen – mit wenigen Gesunden, mit wenigen Kranken und zum Schluss mit vielen Kranken (vgl. Kapitel zur Medikamentenentwicklung). In allen Phasen können KI-Systeme dabei helfen, geeignete Patientinnen und Patienten auszuwählen, um die Anzahl an Studienteilnehmenden auf ein Minimum zu beschränken. KI kann auch mithelfen, die Daten aus den klinischen Studien auszuwerten.
Zulassung
Auch in der Zulassungsphase besteht Potenzial für den Einsatz von KI. Denn die Arzneimittelbehörde muss die umfangreichen Dokumentationen der Medikamentenhersteller im Zulassungsverfahren prüfen. Die Europäische Arzneimittelbehörde EMA sieht bei der Marktzulassung Potenzial für KI-Anwendungen beim Zusammenstellen, Übersetzen oder Überprüfen von Daten. Auch die Schweizer Arzneimittelbehörde Swissmedic testet derzeit, wie sie KI für ihre Zwecke nutzen kann.
Abbildung 3: KI in der Medikamentenentwicklung. © Interpharma.
Und was bringt’s?
Die Pharmaunternehmen erhoffen sich vom Einsatz von KI:
- eine deutliche Verkürzung der Medikamentenentwicklung
- eine höhere Effizienz (über 90 % der Wirkstoffkandidaten schaffen es gar nie auf den Markt)
- Kosteneinsparungen (heute kostet die Entwicklung eines Medikaments im Durchschnitt eine Milliarde Franken)
- weniger Patientinnen und Patienten in klinischen Studien
- wirksamere und individuell passendere Medikamente und Therapien
So wenden Pharmaunternehmen KI bereits heute an
AbbVie, ein US-Biopharma-Unternehmen, nutzt Algorithmen, um sich personalisierte Literaturpakete erstellen zu lassen.
Roche nutzt zum Beispiel für klinische Studien in der Krebsforschung künstliche Kontrollgruppen (sogenannte virtuelle Kontrollarme). Das heisst, es gibt keine echte Kontrollgruppe, die ein Scheinmedikament erhält, sondern dies wird mit Daten von echten Fällen simuliert.
Novartis hat im Jahre 2019 zusammen mit Microsoft das «AI Innovation Lab» ins Leben gerufen. Ziel der Zusammenarbeit ist es, neue Medikamente und Therapien zu entwickeln. So ist beispielsweise ein KI-getriebenes System zur Diagnose von Lepra im Aufbau. In ihrem Data42-Projekt führt Novartis Millionen von Datensätzen aus 20 Jahren Forschung zusammen. Datenwissenschaftler suchen dann mit Hilfe von KI-Systemen nach bisher unerkannten Wirkzusammenhängen von Substanzen. Und auch in der Immuntherapie von Krebs und bei anderen Behandlungen setzt das Unternehmen auf KI, um Therapien «masszuschneidern»
Das Pharma-Startup Delta 4 mit einem Ableger in Schindellegi SZ bietet Pharmaunternehmen ein Instrument an, das mittels KI nach neuen Anwendungsgebieten von bekannten Medikamenten sucht oder umgekehrt nach neuen Wirkstoffkombinationen für Krankheiten. Für die Datensammlung, das Rechnen von über 10’000 Modellen und die Entwicklung einer Liste passender Präparate oder Wirkstoffe braucht die KI nur einige Stunden. Danach ist es an den Forschenden, die Liste zu beurteilen.
Forschende aus den USA und Kanada haben dank Deep Learning einen erfolgversprechenden Wirkstoff zur Bekämpfung des Bakteriums «Acinetobacter baumannii» entdeckt. Es kursiert gerne in Spitälern und zählt zu den gefährlichsten antibiotikaresistenten Keimen der Welt.