2. Embryonale Stammzellen: unser aller Ursprung
Wissenschaftler unterscheiden zwei Sorten von Stammzellen: embryonale und adulte Stammzellen. Embryonale Stammzellen (ES-Zellen) entstammen, wie der Name sagt, aus Embryonen. Wir alle sind aus einer solchen Stammzelle entstanden – aus der befruchteten Eizelle. Durch Teilung entsteht aus dieser Zelle ein erwachsener Mensch. Bis zu einem Stadium von acht Zellen besitzt jede dieser Zellen die Fähigkeit, zu einem ganzen Menschen auszuwachsen. Zellen in einem späteren Stadium verlieren diese Fähigkeit. Diese frühen Zellen werden daher totipotent genannt, vom lateinischen «zu allem fähig».
Am fünften und sechsten Tag nach der Befruchtung befindet sich der Embryo im Blastozystenstadium. Die Blastozyste hat dann die Form einer Hohlkugel und besteht aus etwa 200 Zellen. Im Inneren der Kugel befinden sich ungefähr dreissig Zellen aus denen später alle der über 200 Zelltypen des menschlichen Körpers entstehen können, aber nicht mehr ein kompletter Organismus. Dieser kleine Zellhaufen im Innern ist die Quelle der ES-Zellen. Man bezeichnet diese Zellen als pluripotent – «zu vielem fähig».
Möchte man solche ES-Zellen gewinnen, so wird der Embryo zerstört und die Zellen entnommen. Die Zellen können dann im Labor gezüchtet werden. Allerdings ist das eine schwierige Aufgabe: Es dauerte 20 Jahre, bis die Forschenden den Trick raushatten, wie menschliche ES-Zellen im Labor wachsen können, denn die Stammzellen benötigen dazu die richtige Umgebung und die richtigen Nährstoffe. Ist in der Kulturschale nicht alles perfekt, beginnen sich die Stammzellen unkontrolliert zu differenzieren, d.h. sie verlieren ihre Pluripotenz und werden zu spezialisierten Zellen, z.B. zu Leberzellen. James Thompson von der University of Wisconsin war der erste, der menschliche ES-Zellen isolieren und kultivieren konnte.
Heute kennen die Forscherinnen und Forscher den Mix an Substanzen, der für das Überleben von menschlichen ES-Zellen nötig ist. Wissenschaftler können die Stammzellen in ihrem undifferenzierten Stadium kultivieren, sie aber auch zur Differenzierung in die embryonalen Grundgewebe Entoderm (Innenschicht), Mesoderm (Mittelschicht) und Ektoderm (Aussenschicht) anregen. Das Ziel der Forschenden ist es, den Prozess der Differenzierung kontrolliert durchzuführen. Sie möchten die ES-Zellen in der Kulturschale dazu bewegen, dass aus ihnen ein neues Organ entsteht, zum Beispiel ein neues Herz (bis dorthin ist es allerdings noch ein weiter Weg). Wenn ES-Zellen mit bestimmten Wachstumsfaktoren stimuliert werden, können sie sich in die verschiedenen Zelltypen differenzieren: Hautzellen, Hirnzellen (Neuronen und Gliazellen), Knorpelgewebe (Chondrozyten), Osteoblasten (Knochen bildende Zellen), Hepatozyten (Leberzellen), Muskelzellen, Zellen der Skelettmuskulatur und Herzmuskelzellen (Myozyten).
Umstrittene Forschung
Die Forschung mit embryonalen Stammzellen ist ethisch sehr umstritten, denn für die Gewinnung von ES-Zellen müssen Embryonen zerstört werden. Woher stammen diese Embryonen? Forschende in der Schweiz arbeiten mit so genannten überzähligen Embryonen: Ein Embryo wird dann überzählig, wenn er durch künstliche Befruchtung (In vitro-Fertilisation) erzeugt wird, dann aber der Frau nicht eingepflanzt wird. Er besteht zu diesem Zeitpunkt aus wenigen Zellen und ist fast so klein wie das Pünktchen auf diesem i. Seit der Annahme des Stammzellenforschungsgesetzes im Jahre 2004 können solche Embryonen für die Forschung verwendet werden, falls das Paar dies möchte. Die Forschenden haben aber nicht freie Hand im Umgang mit den Embryonen, es gibt klare Regeln einzuhalten. Ein entsprechendes Forschungsprojekt muss vom Bundesamt für Gesundheit bewilligt werden, und die zuständige Ethikkommission muss ebenfalls ihr Einverständnis geben. Und per Gesetz darf mit menschlichem Keimgut und mit Erzeugnissen aus Embryonen nicht gehandelt werden.
- Darf man Embryonen töten, um damit zu forschen, wenn das Paar damit einverstanden ist?
- Welche Rechte hat ein überzähliger Embryo? Hat er die gleichen Rechte wie ein geborenes Kind?
- Wann beginnt das Leben? Mit der Befruchtung? Mit der Einnistung in die Gebärmutter? Mit dem Entstehen des Schmerzempfindens? Mit dem Beginn der Hirnentwicklung? Mit der Geburt?
Über diese und ähnliche Fragen wurde im Jahre 2004 im Rahmen des Stammzellenforschungsgesetzes abgestimmt. 66 Prozent der Schweizer Bevölkerung stimmten für eine streng geregelte Stammzellenforschung. Das Gesetz ist seit 2005 in Kraft. 2010 zeigte eine Evaluation, dass die Umsetzung des Gesetzes grundsätzlich gut funktioniert und eine Revision derzeit nicht angezeigt ist.